Die Honigfarbe der Erinnerung

Blätter eines Auktionskatalogs: Ein Werkblock von Elisabeth Endres im Freiburger Morat-Institut

Ihre Ausstellung mit Gemälden, Zeichnungen und Mischtechniken im Georg-Scholz-Haus in Waldkirch ist vor kurzem zu Ende gegangen, dafür ist Elisabeth Endres an anderer Stelle stes noch präsent. Das Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft in Freiburg zeigt einen Block von 134 Zeichnungen auf Blättern eines Auktionskatalogs aus den Zwanzigerjahren – Arbeiten einer Werkserie, von der Teile auch in einer international besetzten Gruppenausstellung zur zeitgenössischen Zeichnung im Fredericianum Kassel im vergangenen Herbst zu sehen waren. Schlicht gerahmt hängen die Zeichnungen inmitten der kleinen Galerie dunkeltoniger Gemälde von Carl Schuch. Und sie führen den Betrachter vor Szenen des Befremdens. Hier ragt ein Arm aus einer Kiste, der eine Puppe oder ein Kind ohne Unterleib an den Haaren schleift. Dort legt sich eine Art Autoreifen wie ein Schwimmring um den Oberkörper einer Frau mit ausdrucksvoll deformierten Beinen. Oder es springt eine Ratte aus dem klaffenden Loch im Schädel eines Mannes. Der Rabe der Kindheit hat – nebst anderem, teil merkwürdigst mutiertem Getier – auf dieser surrealen Bühne so gut seinen Auftritt wie der eigensinnig bewahrte Haarzopf des Mädchens. Hier und da lugen die in dem Katalog abgebildeteten Versteigerungsgegenstände – Kunstwerke und Kunsthandwerk aus dem vorrevolutionären St. Petersburg – durch die Zeichnung. Auf den ersten Blick geben diese den Betrachter mit der überzeugenden Kraft des Traumsprachlichen anfallenden Blätter sich als Gestaltungen des Erinnerns zu erkennen – schon darin, daß die Fabpalette von Schwarz und Gelb die Braunstichigkeit vergilbter Fotografien zitiert. So liessen sich die Zeichnungen als in die Honigfarbe der Erinnerung getauchte Lichtbilder von Exkursionen in verborgene Sellenregionen beschreiben. Dem entspricht die Technik. Denn wie in der menschlichen Psyche Vergangenes gleichzeitig als bewusste Erinnerungsspur und unbewusster Gehalt präsent ist, ragen in die Blätter Relikte von Lebensgeschichte als Sedimente der Erinnerung und gleichzeitig als kryptische Bildchiffren, die auf tiefer liegende seelische Schichten verweisen, wenn der Arbeitsprozess in den mit Bienenwachs grundierten und anschließend mit Farbe bemalten Auktionskatalogblättern ältere Schichten nachträglich durch Abschaben freilegt. Der Betrachter blättert im Album des Unbewussten, das in einer bildsprachlichen écriture automatique Seelengeschichte verdichtet und verfremdet gleichsam reanimiert.

(Badische Zeitung 06.05.2006, Kultur)
Hans-Dieter Fronz